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DAS KREUZ IM NICHTS

DAS KREUZ IM NICHTS   Wer wendet das Blatt entfaltet die Linien   Wer bestimmt die Richtung im Gegenüber aus dem Nichts   Wer umarmt das Fremde hinter dem entleerten Raum als wären es Schwester und Bruder   Wer versöhnt die Pole im goldenen Schnitt   Der wandelt das Selbst

Text | Fotografie: Peter Michael Lupp
Holzstafeln: Hermann Bigelmayr

49°10‘25.752“N 7°4‘14.282“E

KulturOrt Wintringer Kapelle, Kleinblittersdorf. Ehem. Prämonstratenserpriorat von Wadgassen (Ersterwähnung 14. Jh.). Reste des Chors (15. Jh.).

Ortsbezogener Bezugspunkt für das poetische Denkbild

„Das Kreuz im Nichts“ am KulturOrt Wintringer Kapelle

Hermann Bigelmayrs Installation „Die Grenzen des Wachstums“ und der zugehörige öffentliche Diskurs schärfen seit 2011 am KulturOrt Wintringer Kapelle das Bewusstsein für die kontinuierliche Überschreitung der ökologischen Grenzen dieses Planeten. Doch wo sind die Auslöser dafür, dass die Menschen durch unreflektiertes Wachstumsdenken letztlich die Grundlagen ihrer Existenz zerstören? Wie lässt sich die gefühlte Erkenntnis ins Handeln überführen? Liegen die Antriebsfedern und die Ursprünge des weltweiten Wachstumsdiktats möglicherweise unlösbar im tiefsten Inneren der Menschheit, da wo sich Werte bilden und prägen, verborgen?

In diesem lückenhaften Erklärungsmosaik ergaben sich für den Künstler am KulturOrt Wintringer Kapelle Bezugspunkte zu seinen vorherigen Arbeiten. Eine ortsbezogene Anfertigung der beiden Wandreliefs „Das Kreuz im Nichts“, als Deutungsträger für eine adäquate Auseinandersetzung, wurde zur künstlerischen Strategie der Wahl.

Bigelmayrs „Kreuz im Nichts“ bietet also ein bildnerisches Pendant zur Symbolik tradierter religiöser Weltanschauungen, ohne zu vergessen uns den Spiegel vorzuhalten.

Bewusst hängen die beiden quadratischen Reliefs daher wie Ikonen vor dem zugemauerten Portal, das scheinbar keinen Durchbruch erlauben will. Unmittelbar davor eine Landschaft, die sich dem europäischen Miteinander in der deutsch-französischen Beziehung im Rahmen eines Eurodistrictes gewidmet hat und zugleich als Biosphärenreservat für nachhaltige Lebensformen wirbt. Doch nicht viel weiter vor den Portalen Europas erschüttern Kriege und Krisen ganze Staatensysteme und Weltreligionen. Die eigentlichen Brandstifter lassen sich vielfach nicht ermitteln, aber der Brandherd lodert und vertreibt. Der Blick auf das Weltgefüge ist von nicht enden wollenden Strömen vertriebener Menschen bestimmt.

Mit Unbehagen drängen Fragen auch hierzulande, inwieweit religiöse Glaubenssätze dafür eine Mitverantwortung haben, bergen sie doch mitunter auch die Verherrlichung von Gewalt in sich. Die Symptomatik der „Entfriedung“ pocht unaufhörlich lauter, doch warum fehlt den etablierten Kulturen und ihren Religionen die weltversöhnende Substanz?

Macht es nicht auch insbesondere der Auftrag der UNESCO-Biosphären­reservate zur übergeordneten Pflicht, die regionale Forschung zu den ethischen Grundlagen des nachhaltigen und friedlichen Zusammenlebens zwischen Mensche untereinander und im Einklang der Natur intensiv voranzutreiben? Stehen nicht im Friedensprojekt Europa die interkulturellen und interreligiösen Konzepte für eine versöhnende Ethik an erster Stelle?

Dies sind die Fragen, die durch das „Das Kreuz im Nichts“ am KulturOrt Wintringer Kapelle ins Blickfeld geraten. Möge die Sichtung bei den Betrachtern schöpferische Impulse auslösen – hin zu eigenverantwortlichen Reflexionen, welche persönlichen Zutaten zu einer versöhnenden Ethik geleistet werden können. Manche möchten jedoch dabei sicherlich lieber niederknien, um auszublenden.